Die FDA ermittelt: Aduhelm – Teures Alzheimer-Medikament ohne Wirkung?
Lesezeit: 6 Minuten
Die medikamentöse Behandlung von Alzheimer-Demenz steckt trotz intensiver Forschung noch immer in den Kinderschuhen und konzentriert sich nach wie vor auf die auftretenden Symptome und nicht auf deren Ursache. Als das Unternehmen Biogen das Arzneimittel Aduhelm™ als Alzheimer-Medikament zugelassen hat, waren die Erwartungen deshalb entsprechend groß. Das Erstaunliche an dem Medikament: Es soll nicht nur den Krankheitsverlauf aufhalten, sondern auch die Ursachen der Krankheit bekämpfen. Damit wäre es das Erste seiner Art.
Medikamente werden in den USA durch die FDA (Food and Drug Administration) nur zugelassen, wenn die Wirkung durch Studien bewiesen werden konnte. Nun allerdings stellte sich heraus, dass nicht nur die Studienauswertung von Biogen höchst umstritten ist, sondern auch die Zulassung bei der FDA selbst. Die Studien brachten keine vielversprechenden Ergebnisse zutage. Trotzdem wurde das Medikament vorläufig zugelassen. Die FDA ermittelt nun gegen mehrere Mitglieder aus den eigenen Reihen, da es ungewöhnliche Treffen und eine enge Zusammenarbeit zwischen ihnen und der Firma Biogen gegeben haben soll.
Forscher und Ärzte bekümmert über neues Alzheimer-Medikament
Im Juni 2021 hat die amerikanische Zulassungsbehörde FDA dem Medikament Aduhelm™ von Biogen eine vorläufige Marktzulassung erteilt. Nicht nur ist Aduhelm™ das erste neue Medikament gegen Alzheimer seit fast 20 Jahren, es ist auch noch das erste Medikament überhaupt, das eine der Ursachen dieser Erkrankung bekämpfen soll.
Doch was ein Grund zur Freude sein sollte, bekümmert Forscher und Ärzte weltweit, denn die Entscheidung der FDA ist keineswegs so eindeutig wie man annehmen könnte.
Wie soll das Medikament wirken?
Aduhelm™ enthält als Wirkstoff einen Antikörper (Aducanumab), der alle vier Wochen intravenös verabreicht wird. Dadurch wird eine passive Immunisierung erreicht, die das körpereigene Abwehrsystem aktiviert und sich gegen die für Alzheimer typischen Proteinablagerung richtet. In Fachkreisen herrscht allerdings bis heute Uneinigkeit darüber, welche Rolle diese Proteinablagerungen im Verlauf der Erkrankung spielen.
Verbesserung des Krankheitszustands konnte nicht nachgewiesen werden
Aduhelm™ wurde in zwei klinischen Phase-3-Studien untersucht. Ziel der beiden Studien war es, zu zeigen, dass die Behandlung mit Aduhelm™ das Fortschreiten der Alzheimer-Demenz verhindert oder zumindest verlangsamt. Der Krankheitsfortschritt wurde hierbei anhand eines Punktesystems beurteilt, das die kognitiven Fähigkeiten der Studienteilnehmer misst.
Noch vor Fertigstellung der Studien wurde eine Zwischenanalyse durchgeführt, die ergab, dass nur eine der beiden Studien möglicherweise das gesteckte Ziel erreichen könnte. Auf Grund dieser widersprüchlichen und enttäuschenden Resultate wurden beide Studien eingestellt.
Noch gibt es keine Publikationen, in denen die Studienergebnisse von Experten umfassend begutachtet wurden. Unabhängige Forscher, die sich ein Bild von der Qualität der Studienergebnisse machen möchten, sind also auf die von Biogen ausgewählten Daten begrenzt
Studiendaten wurden nachträglich für die Zulassung passend gemacht
Wie Biogen trotz der zunächst negativen bzw. widersprüchlichen Ergebnisse dann doch die Zulassung durch die FDA erhalten hat, ist einer ungewöhnlichen Vorgehensweise geschuldet.
Üblicherweise werden vor Studienbeginn die Rahmenbedingungen festgelegt, wie und welche Daten erhoben werden. Außerdem wird festgelegt, wie die Daten anschließend ausgewertet werden sollen. Damit soll vermieden werden, dass die Studiendaten so lange analysiert werden, bis man am Ende das gewünschte Ergebnis erhält.
Biogen hat sich im Fall Aduhelm™ allerdings dazu entschlossen, eine sogenannte post-hoc (nachträgliche) Analyse durchzuführen, um die unterschiedlichen Ergebnisse der beiden Studien besser zu verstehen. Nachträgliche Analysen haben jedoch nicht die gleiche Aussagekraft wie jene, die schon vor Studienbeginn festgelegt wurden.
Daher dienen sie in der Regel nur dazu, die Vorgehensweise bei zukünftigen Studien zu optimieren.
Im Falle von Aduhelm™ hat sich das Unternehmen Biogen allerdings zu einem ungewöhnlichen Schritt entschieden: Die nachträglich erworbenen Ergebnisse wurden und werden genutzt, um eine Zulassung für Aduhelm™ zu beantragen.
Während in den Studien ursprünglich der Krankheitsfortschritt beim Patienten anhand des erwähnten Punktesystems gemessen wurde, hat man in den nachträglichen Analysen einen anderen Parameter ausgewählt: die Proteinablagerungen. In welchem Ausmaß eine Verminderung der Proteinablagerungen aber die für Betroffene relevanten klinischen Symptome reduzieren kann, ist höchst umstritten. Zudem entspricht eine derartige Änderung der Methodik nicht dem generellen Konsens über die ethisch korrekte Durchführung klinischer Studien.
Fazit: Da die ursprüngliche Gestaltung der Studie nicht zum erwünschten Ergebnis führte, hat sich Biogen nachträglich auf die Reduzierung der Proteinablagerung fokussiert. Die reine Verminderung von Proteinablagerung führt aber nicht zwangsläufig zur Verbesserung der Symptome beim Patienten. Der Abtransport dieser Ablagerung ist entscheidend. Mehr dazu erfahren Sie in Teil 5 „Forschung über die Müllabfuhr im Gehirn„ in unserer Videoreihe mit dem Alzheimerforscher Prof. Dr. Dr. Pahnke.
Mitglieder der Beratungskommission protestieren gegen die Zulassung
Eine in die Zulassung involvierte Beratungskommission bestehend aus elf Experten hat sich einstimmig gegen die Zulassung von Aduhelm™ ausgesprochen. Auch eine Auswertung der Studiendaten durch interne Statistiker der FDA hat ergeben, dass die Wirksamkeit des Medikaments noch nicht erwiesen ist.
Trotz dieser kritischen Stimmen hat die FDA am Ende entschieden, Aduhelm™ eine vorläufige Marktzulassung zu erteilen.
Hinter der Einschränkung „vorläufig“ steckt die Verpflichtung, innerhalb von neun Jahren eine klinische Phase-4-Studie durchzuführen, die die Wirksamkeit bestätigt (oder in diesem Fall überhaupt erst beweist?). Im Anschluss an die Entscheidung der FDA haben mehrere Mitglieder der Kommission ihren Rücktritt angekündigt. Unter Ihnen der renommierte Medizin-Professor Dr. Aaron Kesselheim, der an der Harvard Medical School lehrt. Gegenüber der New York Times äußerte sich Kesselheim:
Das könnte die schlechteste Zulassungs-Entscheidung sein, die die FDA je getroffen hat.
– Kesselheim
Es gäbe schlichtweg keine belastbaren Beweise, dass das Medikament wirke. Doch damit nicht genug: Kurz nach der Zulassung wurde ein Bericht veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass es im Vorfeld des Zulassung eine ungewöhnlich enge Zusammenarbeit und strategische Treffen zwischen dem Unternehmen Biogen und der Zulassungsbehörde FDA gab, selbst zu einem Zeitpunkt, als Aduhelm™ totgeglaubt war. Die amtierende Kommissarin der FDA, Janet Woodcock, hat daraufhin eine unabhängige Untersuchung dieser Vorwürfe verlangt. Allerdings steht auch Woodcock selbst im Kreuzfeuer, da unklar ist, wie viel sie über die Zusammenarbeit wusste.
Ein 56.000 $ teures Medikament mit signifikanten Risiken
Während die ursprüngliche Zulassung Aduhelm™ für alle Alzheimer-Patienten empfahl, wurde kurze Zeit später präzisiert, dass die Behandlung bereits im Frühstadium der kognitiven Beeinträchtigung beginnen müsste. Für viele Betroffene kommt das Medikament also möglicherweise ohnehin gar nicht mehr in Frage.
Wie beschrieben ist allerdings auch bei der Gruppe der Betroffenen, die eine Behandlung erhalten könnte, die Wirksamkeit höchst umstritten.
Dennoch ist Aduhelm™ ab sofort in den USA zugänglich und es ist wahrscheinlich, dass das Medikament verschrieben wird. Dadurch kommen hohe Kosten auf Patienten und deren Versicherungen zu.
Es müssen zunächst teure diagnostische Tests durchgeführt werden um herauszufinden, ob ein Patient zur Zielgruppe gehört. Danach kostet die Behandlung durchschnittlich 56.000 US Dollar jedes Jahr. Da die Behandlung bereits im Frühstadium beginnen soll und für einen Effekt konstant weitergeführt werden muss, ist es leicht nachvollziehbar, dass eine Behandlung mit Aduhelm™ mit astronomischen Kosten verbunden ist. Dieses Geld fehlt gegebenenfalls dann an anderer Stelle.
Nicht nur ist unklar, ob und wie einzelne Betroffene von der Behandlung profitieren, sie gehen auch signifikante gesundheitliche Risiken ein, sollten zum Beispiel Nebenwirkungen wie Hirnödeme auftreten. Für viel Geld bekommen sie also ein Vielleicht-Medikament, dessen Wirksamkeit unter Experten höchst umstritten und in Studien bisher nicht wirklich nachgewiesen ist.
Zulassung des umstrittenen Medikamentes auch in Europa?
Es bleibt spannend, ob sich auch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) von der mageren Datenlage überzeugen lässt. Eine Entscheidung zu Aduhelm™ ist möglicherwiese noch dieses Jahr zu erwarten.
Zuletzt bleibt die Hoffnung, dass die Forschung hinsichtlich einer Behandlung der Alzheimer-Erkrankung durch die Zulassung von Aduhelm™ nicht negativ beeinflusst wird. Nach wie vor werden alle Ressourcen benötigt, um eine hochwirksame Behandlung zu finden, von der alle Patienten profitieren können.
Weitere Artikel zu diesem Thema
ADHS – Hohes Potential im Griechischen Bergtee (Sideritis scardica)
ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung und ist eine neurologische Störung. Sie tritt überwiegend bei Kindern auf, aber auch Erwachsene können betroffen sein. Die typischen Kennzeichen äußern sich bei Kindern anders als…
Höheres Demenzrisiko durch Depressionen und kognitive Beeinträchtigungen
Nach Schätzung der Deutschen Alzheimer Gesellschaft sind in Deutschland rund 1,6 Mio. der über 65-Jährigen von einer Demenzerkrankung betroffen (Stand 2019). Rund 1,1. Mio. fallen dabei auf die Frauen, rund…
Gedächtnisprobleme – Vorstufe zur Demenz?
Etwa 3,7 Mio. oder 16,6 % aller über 65-Jährigen in Deutschland sind nach aktuellen Schätzungen von leichten kognitiven Beeinträchtigungen im Alter betroffen. Davon befinden sich nur 200.000 Patienten in Behandlung.…